Faustkämpfer mit Fingerspitzengefühl

Der Boxsportclub Kiel schlägt in Teil 15 unserer Projektporträt-Serie mit einem integrativen Betreuungsansatz die Brücke zu anderen Sportvereinen und -angeboten.

Mitglieder des Stützpunktvereins "Boxsportclub Kiel e.V." (Quelle: N. Uphaus)
Mitglieder des Stützpunktvereins "Boxsportclub Kiel e.V." (Quelle: N. Uphaus)

Vorsitzender zu werden, sagt Jürgen Rechner, dieser Gedanke sei ihm immer fremd gewesen. „Bloß nicht. Das wollte ich nie, schon wegen der Vereinsmeierei und so. Und nun bin ich mittendrin; mit allem, was dazu gehört.“ Seit drei Jahren leitet der 49-Jährige den Boxsportclub Kiel. Eine unverhoffte Wendung in seinem Leben, aber keine, die ihn traurig macht: „Das ist eine Herzenssache. Es ist schön zu sehen, wie viel Spaß den Kindern das Boxen macht, wie wichtig sie es nehmen und wie viel sie über den Sport hinaus lernen.“ Die Gründung des Vereins und der Sinneswandel Rechners haben maßgeblich mit einer besonderen Freundschaft zu tun, über die zu berichten sein wird. Vor allem deshalb, weil das erfolgreiche Wirken des Clubs in kurzer Zeit Wogen geschlagen hat – sogar überregional. Die Kieler sind seit vergangenem Jahr Stützpunktverein des Programms „Integration durch Sport“ (IdS), eine Auszeichnung, die unlängst durch den Förderpreis des Landessportbundes Schleswig Holstein „Kein Kind ohne Sport“ eine Ergänzung erfuhr.
    
Es lohnt sich also ein Blick zurück, am besten auf Vladimir Milasecko. Den diplomierten Sportlehrer aus Kasachstan lernte Jürgen Rechner vor ungefähr zehn Jahren im Rahmen seiner Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe im Kieler Stadtteil Gaarden kennen. Ein ehemaliges Arbeiterviertel mit hoher Arbeitslosigkeit, in dem zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen Sozialhilfe erhält, die Hälfte der Bürger einen Migrationshintergrund hat und über das Journalisten Reportagen zum Thema „sozialer Brennpunkt“ verfassen. Vladimirs Leidenschaft sei Sport, sagt Rechner. „Er hat sein Leben lang geboxt. Ich hatte damit nichts am Hut, mein Blick aufs Boxen war durch das beschränkt, was man aus dem Fernsehen kennt.“ Trotzdem fanden Sozialarbeiter und Sportpädagoge zusammen. „Die Chemie stimmte sofort. Ein russischer Bär mit Herz. Er hat das nötige Fingerspitzengefühl Kindern gegenüber. Er lebt den Sport.“  

Die beiden legten los, zunächst ohne Vereinsrahmen. Sie gaben nachmittags Boxunterricht an Schulen; das kam an und sprach sich rum, auch bei sozialen Diensten und städtischen Einrichtungen. „Es ging um sinnvolle Freizeitbeschäftigung für Jugendliche, die nicht in gängigen Sportvereinen integrierbar sind. Die natürliche Autorität von Vladimir ermöglicht einen Zugang, den Jugendämter in der Form nicht bekommen“, sagt Rechner. Und die Vorurteile gegenüber einem Kampfsport? „Natürlich wollen viele zunächst Boxen lernen, damit sie andere umhauen können. Aber im Verlauf des Trainings, durch die körperliche Anstrengung, durch die ungewohnte Situation, in der sie erlernen, sich zu schützen statt auszuteilen, wächst etwas in ihnen, ein neues Gefühl, eine neue Perspektive. Es entsteht Respekt dem anderen gegenüber.“

Trainiert haben sie im Werftpark, der grünen Lunge des Gaardener Stadtviertels, oder in Kellerräumen, die ihnen Privatleute zur Verfügung stellten. In dieser Weise ging es weiter, auch das Wachstum. „Irgendwann hatten wir das Problem, dass nicht mehr jeder in Genuss einer Jugendhilfe kam. Zum Beispiel Gruppen aus psychiatrischen Einrichtungen, wie dem Kieler Fenster.“ Rechner und Milasecko versuchten die Kinder weiterzuvermitteln, aber „Boxsportvereine sind in unserer Stadt nicht breit gesät“, sagt Rechner. So tauchte der Wunsch auf: „Können wir nicht bei Euch weitermachen?“ Das war der Startschuss für den eigenen Club.

Mittlerweile hat der Verein ein Domizil und rund 80 Mitglieder (70 Prozent Migranten, 30 Prozent Nichtmigranten), die sich den Regeln des Olympischen Boxens – Respekt und Toleranz – unterwerfen müssen. „Das ist unsere klare Ansage, sobald die Boxhalle betreten wird.“ Außerhalb des Rings werden Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Frustrationstoleranz und -kontrolle vermittelt, innerhalb der Umgang mit Macht und Ohnmacht sowie Sieg und Niederlage trainiert. Weiterer 80 Kinder, darunter sozial auffällige und hyperaktive Schüler, nimmt sich der Verein in zeitlich begrenzten Projekten der Jugendhilfe an.  

Den integrativen Betreuungsansatz von Migranten und sozial Benachteiligten setzt der Boxsportclub Kiel neuerdings mit einem „Begegnungsraum“ fort, in dem Stadtteil-Kinder Hausaufgabenhilfe bekommen. „Manche sind zu stolz, Bildungsgutscheine oder überhaupt Beistand anzunehmen, denen wollen wir helfen“, sagt Rechner. Durch Patenschaften und die IdS-Unterstützung könne der Raum ausgestattet, und wenn nötig Nachhilfeunterricht organisiert werden. Bleibt noch eine Sache: Auch Jürgen Rechner kann inzwischen Boxen, und es macht ihm viel Spaß. „Obwohl der Trainer nie zufrieden ist.“

(Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 51, Text: Nicolas Richter)


  • Mitglieder des Stützpunktvereins "Boxsportclub Kiel e.V." (Quelle: N. Uphaus)
    Mitglieder des Stützpunktvereins "Boxsportclub Kiel e.V." (Quelle: N. Uphaus)
  • Training im Boxkeller (Quelle: Boxsportclub Kiel e.V.)
    Training im Boxkeller (Quelle: Boxsportclub Kiel e.V.)