„Eigentlich hatte ich gar keine andere Wahl, als das Sportabzeichen abzulegen“ erzählt Wolfgang Radtke. „Ich war damals auf der Polizeischule in Münster. Da wurde morgens gepfiffen, dann hieß es ‚antreten’ und wer nicht gerade krank war oder aus anderen Gründen ausgemustert wurde, musste das Sportabzeichen machen“, erinnert sich der heute 73-Jährige. Das, was 1957 als Pflichtbestandteil der Ausbildung bei der Polizei begann, ist aber bis heute ein freiwilliger Leistungstest für Wolfgang Radtke. Seit damals hat er jedes Jahr die Disziplinen erfüllt.
Im April 2012 wurde ihm durch den Plettenberger Stadtsportverband sein 55. Fitnessorden in „Gold“ im Rathaus feierlich verliehen. Damit hält Wolfgang Radtke den Rekord im Märkischen Kreis. „Das wird sich so schnell auch nicht ändern, ich bin ja sozusagen uneinholbar“, lacht der Pensionär.
Wie der Sport ihm Türen und Herzen öffnete
Als kleiner Junge kam Wolfgang Radtke als Flüchtlingskind gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Pommern in das westliche Sauerland. Er erinnert sich noch an seine ersten Eindrücke in der neuen Heimat: „Es wurde gerade Winter und es war furchtbar kalt. Vom LKW aus habe ich die hohen Berge gesehen. Das war schon beeindruckend, weil ich so etwas ja nicht kannte“, erzählt er. Die erste Zeit als Flüchtling in Plettenberg war hart für den damals Sechsjährigen. Keine Freunde, kaum Kontakt zu den Mitschülern und der tägliche Kampf um Anerkennung. Das sollte sich aber schlagartig ändern.
„Die Schulmeisterschaften standen an und dort bekam ich zum allerersten Mal Aufmerksamkeit, weil ich so schnell laufen konnte. Und das sogar barfuss, weil ich ja keine Sportschuhe hatte“, erinnert sich Wolfgang Radtke. Dieser 50-Meter-Lauf auf dem Schulhof sorgte dafür, dass er endlich in der neuen Heimat angekommen war. Der Sport brachte Wolfgang Radtke Erfolg, Anerkennung und damit auch Freunde.
Eine Sonderkonstruktion der Natur
Im Alter von neun Jahren wurde bei Wolfgang Radtke eine überraschende Diagnose gestellt.
Situs inversus, eine seltene, aber an sich nicht krankhafte Besonderheit der Anatomie, bei der sich Organe spiegelverkehrt auf der anderen Seite des Körpers befinden. „Ich habe das Herz auf der rechten Seite und alle anderen Organe, die da eigentlich hingehören, sind eben links“, beschreibt der pensionierte Polizeibeamte seine Besonderheit. „Ich habe immer gesagt, ich bin eine Sonderkonstruktion der Natur“, lacht er.
Genau das drohte ihm bei der Untersuchung zur Aufnahme auf der Polizeischule beinahe zum Verhängnis zu werden. Weil dieser Befund eher selten ist, taten sich die Ärzte schwer, erkannten aber schließlich, dass keine körperlichen Beeinträchtigungen zu befürchten waren.
Wolfgang Radtke selbst hat seine besondere Anatomie allerdings nie auf die leichte Schulter genommen. „Dadurch, dass ich anders war, habe ich ein besonderes Verhältnis zu meinem Körper aufgebaut. Ich wollte immer so gesund und fit wie möglich sein. Dabei hat mir über all die Jahre auch das Sportabzeichen sehr geholfen“, so Wolfgang Radtke. Und das hat auch durchaus positive Nebenwirkungen. Der 73-Jährige kann auch heute noch seine zum Teil 30 Jahre alten Anzüge tragen. „Ich denke, dadurch, dass ich immer Sport gemacht habe, ist mein Körper darauf eingestellt. Ich könnte gar nicht dick werden“, ist der Pensionär überzeugt.
Nur zwei Mal, erinnert sich Wolfgang Radtke, fiel ihm das Ablegen der Disziplinen schwer. Das war nach dem plötzlichen Tod seiner Frau Brunhilde im Jahr 2010 und ein Jahr später durch eine Operation. „Als der OP-Termin festgelegt wurde, habe ich schnell vorher noch die Schwimmdisziplinen abgelegt und die anderen habe ich dann später nachgeholt, als ich wieder gesund war“, erzählt Wolfgang Radtke.
Eine Wasserratte mit Benzin im Blut
Der Samstag ist bei Wolfgang Radtke fest für das Schwimmen reserviert. Jede Woche fährt er nach Lüdenscheid, um seine Bahnen zu ziehen. „1.000 Meter jede Woche müssen schon drin sein“, sagt er. Das kontinuierliche Training zahlt sich aus. Gute 24 Minuten braucht der 73-Jährige für diese Distanz, die Vorgabe in seiner Altersklasse liegt bei 47 Minuten. Bei gutem Wetter fährt Wolfgang Radtke mit dem Fahrrad zur zwei Kilometer entfernten Oestertalsperre und springt dort zum Schwimmen in den Stausee, allerdings nur mit Neoprenanzug. Außerdem zieht es ihn regelmäßig in den Wald. „Ein Mal pro Woche, meistens mittwochs, mache ich Waldläufe mit Gymnastikeinlagen. Dabei sind Ruhebänke meine Sportgeräte und ich habe mir Steine im Buschwerk versteckt, die ich als Hanteln benutze“, erzählt Wolfgang Radtke. „Das mache ich schon seit meiner Polizeiausbildung so, also lange bevor der Begriff ‚Jogging’ bekannt wurde. Ich möchte nicht wissen, was einige Waldspaziergänger damals dachten, als sie mich dabei beobachtet haben. Aber wie heißt es so schön? Der Zweck heiligt die Mittel“, lacht der heute 73-Jährige.
Aber „Mister Sportabzeichen“ aus Plettenberg hat noch eine weitere Leidenschaft. Bei ausgedehnten Touren mit seinem Motorrad genießt Wolfgang Radtke die Natur seiner Heimat. Und die restliche Zeit widmet er seinen sieben Enkelkindern und seinem Urenkel. Mit etwas Glück werden diese die sportlichen Gene ihres Opas in sich tragen und wer weiß, vielleicht kommt ja auch der künftige Sportabzeichen- Rekordhalter von Plettenberg aus den Reihen der Radtkes.
Quelle: wirkhaus